Ernst-Toller-Preis 2015 an Katja Petrowskaja verliehen – Kritische Gesamtausgabe fertig
Berlin/Neuburg an der Donau, 1. Februar 2015 – Für ihre journalistischen Arbeiten und ihre erste Buchveröffentlichung „Vielleicht Esther“ erhält die im damals sowjetischen Kiew geborene Katja Petrowskaja im Rahmen eines Festakts im Stadttheater den mit 5.000 Euro dotierten Ernst-Toller-Preis. Zugleich feiert die Ernst-Toller Gesellschaft den Abschluß eines Langfristprojekts.
In der Laudatio für die Toller-Preisträgerin sagt Sandra Kegel (Frankfurter Allgemeine Zeitung), der Preis sei für Katja Petrowskaja wie gemacht, weil er die „besondere Leistungen im Grenzbereich von Literatur und Politik“ würdigt. Und ein „Atlas der Reisen beider Autoren, wenn es ihn den gäbe und würde man darin eine zweite Fährte anlegen, die den Spuren Ernst Tollers durch Europa bis nach Amerika folgte – man wäre überrascht, an wie vielen Orten und Landschaften die Wege der beiden Autoren sich kreuzten. Siebenundsiebzig Jahre liegen zwischen den beiden und ein Krieg gegen die Menschheit, den Ernst Toller so genau vorausgesehen hat, dass er es nicht aushielt und sich 1939 das Leben nahm. Und auf den Katja Petrowskaja in ihrem Buch so skrupulös zurückschaut, dass die Lektüre für den Leser zur Grenzerfahrung wird.“
Zugleich wird bei diesem Anlass ein editorisches Großprojekt vorgestellt, das die Ernst-Toller-Gesellschaft von ihrem Anbeginn 1990 an mit Verve vorangetrieben hat: Unter dem Titel Ernst Toller: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe liegt bei Wallstein in Göttingen erstmals das literarische und publizistische Gesamtwerk Ernst Tollers in Form einer insgesamt sechsbändigen Studienausgabe mit umfangreichen Apparaten und Kommentaren vor.
Die Bände 1 und 2 umfassen die Theaterstücke einschließlich der jeweils vollständig abgedruckten Fassungen seiner bekannten Dramen Hoppla, wir leben! und Feuer aus den Kesseln; Band 3 die autobiographischen Bücher Eine Jugend in Deutschland, Briefe aus dem Gefängnis und Justiz. Erlebnisse einschließlich der verstreut publizierten autobiographischen und justizkritischen Prosa sowie erstmals auch aller überlieferten Verhörprotokolle, die nach den Verhaftungen des Revolutionärs 1918 und 1919 von Polizei-, Justiz- und Militärbehörden aufgenommen worden sind. In dem aus Umfangsgründen in die Teilbände 4.1 und 4.2 untergliederten vierten Band sind außer Tollers Prosasammlung Quer durch die übrigen publizistischen Arbeiten und Reden, die Fragmente zu einem unvollendet gebliebenen Bericht über seine humanitäre Hilfsaktion während des Spanischen Bürgerkriegs sowie die amtlichen Schriften aus der Münchner Revolution von 1918/19 enthalten; Band 5 schließlich bringt neben Tollers Lyrik und seinen Chorwerken auch die kurzen Erzählungen, die beiden Hörspiele Berlin, letzte Ausgabe! und Indizien sowie mit dem Text von Der Weg nach Indien das einzige überlieferte Film-Treatment aus Tollers Zeit als Drehbuchschreiber in Hollywood.
Bisherige Preisträger sind Albert Ostermaier, Biljana Srbljanović, Felix Mitterer, Juli Zeh, Günter Grass, Gerhard Polt und Christoph Ransmayr.
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Dr. Sandra Kegel
Laudatio
„Vielleicht Esther“ ist ein Buch, dessen Stationen man sich auf einer Landkarte einzeichnen müsste – so viele Länder, Städte und Straßen kommen darin vor, die Katja Petrowskaja für ihre jahrelange Recherche abgegangen ist. Die Reise in ihre Familiengeschichte, die sie für uns rekonstruiert, führt sie von Berlin und Wien nach Warschau, Kiew, Moskau, Mauthausen und vor allem: Immer wieder in die Vergangenheit. Gäbe es diesen Atlas und würde man darin eine zweite Fährte anlegen, die den Spuren Ernst Tollers durch Europa bis nach Amerika folgte – man wäre überrascht, an wie vielen Orten und Landschaften die Wege der beiden Autoren sich kreuzten.
Siebenundsiebzig Jahre liegen zwischen den beiden und ein Krieg gegen die Menschheit, den Ernst Toller so genau vorausgesehen hat, dass er es nicht aushielt und sich 1939 das Leben nahm. Und auf den Katja Petrowskaja in ihrem Buch so skrupulös zurückschaut, dass die Lektüre für den Leser zur Grenzerfahrung wird. „Vielleicht Esther“ handelt von der Aneignung der Geschichte durch die Nachgeborenen. Katja Petrowskajas jüdische Großmutter wurde 1941 von den deutschen Besatzern in Kiew ermordet. Dem Grauen nähert sie sich erinnernd, erfindend, fragend, zweifelnd.
Dass Katja Petrowskaja hier und heute mit dem Ernst-Toller-Preis geehrt wird, hat daher etwas Schicksalhaftes. Und auch, wenn die 1970 in Kiew geborene Autorin für ihr erzählerisches Debüt, das im vorigen Jahr beim Suhrkamp Verlag in Berlin erschien, schon einige Auszeichnungen erhalten hat – darunter für einen Auszug den Ingeborg-Bachmann-Preis -, so ist dieser Preis im Namen von Ernst Toller für Katja Petrowskaja wie gemacht. Denn er würdigt „besondere Leistungen im Grenzbereich von Literatur und Politik“.
Genau darin kommt diese Autorin Toller ganz nah. Sie bewegt sich in diesem Spannungsfeld. Wer, wie ich einmal, versehentlich in Zusammenhang mit „Vielleicht Esther“ von einem „Roman“ sprach, der wird von der Autorin eines Besseren belehrt. Katja Petrowskaja schreibt keine Fiktion, doch ist „Vielleicht Esther“ im Innern eine Reflexion darüber, was Erzählen ist, was es sein kann.
Nicht zufällig erzählt sie im zentralen Kapitel ihres Buches, in dem es um die Flucht ihrer jüdischen Familie aus Kiew im Jahr 1941 geht, von einem Ficus. Das Bäumchen, das gegen jegliche Standortveränderung mit sofortigem Laubverlust protestiert und in der Geschichte von Katja Petrowskaja seine Blätter im Takt der einmarschierenden Wehrmacht zittern lässt, hat es so vielleicht nicht gegeben. Aber in der Erzählung wird es für sie immer wahrscheinlicher, und es wird schließlich zu einer Art Platzhalter für die Erfindung im Schreiben von Katja Petrowskaja: „Manchmal ist es gerade die Prise Dichtung, welche die Erinnerung wahrheitsgetreu macht“, sagt ihr Vater und tröstet sie. Für sie war der Ficus „die Hautfigur, ja, wenn nicht der Weltgeschichte, dann meiner Familiengeschichte. In meiner Fassung hat der Ficus das Leben meines Vaters gerettet.“ Ihr Vater kann sich nicht erinnern.
Von dieser Spannung handelt gleich das erste Kapitel: Da fragt am Berliner Hauptbahnhof ein älterer Herr mit amerikanischem Akzent, ob sie wisse, was es mit dem Wort „Bombardier“ auf der großen Glasfront der Halle auf sich habe. Es ist der Werbeschriftzug einer deutschen Flugzeugbaufirma, doch damit steht plötzlich die deutsche Geschichte im Raum, die schlimmste aller Vergangenheiten, und die Wirkung wird noch unerträglicher, als herausstellt, dass der Amerikaner Jude ist – auf dem Weg zu seinen Vorfahren in einem polnischen Dorf. Da erfindet die Erzählerin für den Mann aus dem Stehgreif und nur für ihn die Lügengeschichte, dass es sich um ein französisches Musical über die Pariser Kommune handele, und es sogar einen Gerichtsfall gegeben habe, für den Linguisten das Wort auf sein Gewaltpotential hin untersucht hätten, „und so drehte ich mich immer weiter in den Kurven dieses niemals gesprochenen Urteils, denn – wer nicht lügt, kann nicht fliegen“. So bohrt sich Katja Petrowskaja immer tiefer hinein in ihre Phantasie und legt zugleich ein ums andere Mal neue Schichten der Vergangenheit frei. Ich aber kann nun auch nicht mehr am Hauptbahnhof in Berlin ankommen, ohne den Schriftzug Bombardier anzuschauen, der noch immer dort steht, und über seine halsbrecherischen Abgründe nachzudenken.
Nicht zufällig trägt das Buch im Untertitel die Bezeichnung Geschichten. Das ist ernst gemeint. Während die Geschichte als Historie für Katja Petrowskaja beginnt, wenn die Zeitzeugen verschwunden sind, wenn es keine Menschen mehr gibt, die man fragen kann, sondern nur noch Quellen, sind Geschichten Eventualitäten einer Wirklichkeit. Erinnerungen, Phantasien und Träume fließen zu einer großen Erzählung zusammen, und es sind kleineste Details, ein Namensschild, eine Straßenkreuzung, eine Email, die den Anstoß dafür geben.
Wie in der Szene am Berliner Bahnhof verortet sich die Autorin immer wieder selbst in ihrem Text. So kann sie schließlich auch von hinten ihre Urgroßmutter sehen, die sich nach dem Aufruf in Kiew auf der „Engelsstraße“ zum Abtransport einfindet. Und den deutschen Offizier, der sie dann „auf der Stelle erschossen (hat), mit nachlässiger Routine“, noch ehe sie Babij Jar erreicht hat. Die Stätte des Grauens, an der im September 1941 in zwei Tagen mehr als 33 771 Juden ermordet wurden.
Die Urgroßmutter ging zu ihnen, heißt es im Text, „zu den deutschen Soldaten“. Und dann: „Aber wie lange dauerte dieses ging? Hier folge jeder seinem Atem.“
Atmen und Sprechen, das hat viel miteinander zu tun. Katja Petrowskaja macht die Sprache durchlässig wie eine Membran für das Verborgene. Vielleicht tut sie das, weil Deutsch nicht ihre Muttersprache ist. Als sie vor fünfzehn Jahren von Moskau nach Berlin übersiedelte, kannte sie nur zwei Wörter: Hitler und kaputt. Wie viele Sprachen, Kulturen und Einflüsse sich in ihrer Sprache zu einer neuen Semantik verbinden, hat sie selbst einmal so beschrieben: „Ich dachte auf Russisch, suchte meine jüdischen Verwandten und schrieb auf Deutsch. Ich hatte das Glück, mit einer Kluft der Sprachen, im Tausch, in der Verwechslung von Rollen und Blickwinkel mich zu bewegen. Wer hat wen erobert, wer gehört zu den Meinen, wer zu den andern, welches Ufer ist meins?“
Als sie die Holocaust-Überlebende Mira Kimmelmann trifft, ist sie vor allem darüber erstaunt, was sie da hört: „Es verschlug mir den Atem“, schreibt Katja Petrowskaja. „Sie sprach nicht nur besser Hochdeutsch als ich, es war das Vorkriegsdeutsch, langsam und gepflegt, als hörte man da Knarren eines alten Grammophons oder da Knistern von Zelluloid“.
Auch hier lässt sich eine Verbindung zu Ernst Toller ausmachen, der, im Jahr 1893 in Samotschin im damaligen Posen als Sohn deutsch-jüdischer Kaufleute geboren, ähnlich gesprochen haben muss wie Mira Kimmelmann. Man kann eine Ahnung davon gewinnen, wenn man sich bei Youtube die Lesung von Ernst Toller aus dem Jahr 1929 anhört, in der er eindringlich-melodisch einen Auszug seines berühmtesten Stücks „Hoppla, wir leben“ vorträgt. Es ist ein Deutsch, wie es heute nicht mehr gesprochen wird.
Auch Katja Petrowskajas Deutsch hat einen betörenden Tonfall, klangvoll und nuancenreich, wie man es kaum je zu lesen bekommt. Und auch sie hat anhand von alten Schallplatten, die sie in Polen gekauft hat und ihrer Großmutter vorspielt, einen Zugang zur verschütteten Vergangenheit über den sinnlichen Vorgang des Hörens gefunden. Es ist ja selbst schon eine Übersetzung, die sie vorgenommen hat. Erst 1998, Katja Petrowskaja hatte gerade in Moskau promoviert, als sich die Situation zuspitzte, da verließ sie mit ihrem deutschen Mann Moskau. Sie gingen nach Berlin.
Um die Gefährdung der Sprache ist es ihr auch zu tun, wenn sie über die aktuelle Ukraine-Krise nachdenkt. Dass wir heute „die Sprache der Geopolitik“ übernehmen, „die Sprache der Feldzüge, die Sprache Putins“, beschäftigt Katja Petrowskaja, wenn sie auf die Krise in der Ukraine blickt.
Diese Krise treibt sie nicht nur deshalb um, weil sie in Kiew geboren wurde und aufwuchs, damals, als Kiew noch die Hauptstadt der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik war. In ihrem ukrainischen Herzen wohnt auch eine russische Seele. Bislang konnten die beiden friedlich koexistieren, wie sie in einem Text schreibt, nun werden sie gegeneinander ausgespielt würden.
Als die Ukrainer auf dem Maidan demonstrieren, postet eine Moskauer Freundin von Katja Petrowskaja ein Video mit der letzten Vorlesung ihres verstorbenen Professors aus Tartu, Jurij Lotman. Lorman begann seinen Vortrag damit, dass der Tod nicht das Schlimmste sei. Das Schlimmste sei die Erniedrigung, „die Spucke ins Gesicht“. Es war die brennende Aktualität seiner Worte, die Katja Petrowskaja erschreckte, denn damals, vor mehr als zwanzig Jahren, sprach Lotman über die Ethik des Duells, von der Ehre und ihrer Verletzung, von Krieg und Frieden und Fürst Bolonski, der sich nicht vor den Artillerieschüssen beugt und deswegen stirbt. Es bleibt ein unerklärliches Rätsel der Geschichte, schreibt Petrowskaja in einem Text über den Maidan, warum ein Mensch, „der jahrelang die Erniedrigung akzeptiert, es plötzlich nicht mehr tut, und sich widersetzt“.
Als ich Katja Petrowskaja das erste Mal traf, bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt, da musste sie Journalisten noch erklären, dass sie keine Russin sei, sondern Ukrainerin. Nicht einmal zwei Jahre ist das her und doch fühlt es sich an, als habe sich seither Europa einmal auf den Kopf gestellt. Noch ein anderes Mal bin ich auf den Spuren von Katja Petrowskaja unterwegs gewesen, damals allerdings, ohne es zu wissen. Ich war auf einer Reise nach Estland auch in Tartu gelandet, der kleinen Universitätsstadt, in der Katja Petrowskaja von 1987 bis 1992 bei Juri Lotman studierte, dem berühmten Semiotiker und Strukturalisten.
Zu Sowjetzeiten war Tartu einer der freiesten Orte, den man sich denken konnte, an dem sich ohne ideologische Gängelung Literaturwissenschaft studieren ließ. Der Russland-Kenner und Mandestam-Übersetzer Ralph Dutli sprach damals, während unserer kleinen Exkursion, über die besondere Bedeutung der kleinen Stadt am Rande des Imperiums, in der das Erbe der russischen Formalisten und Strukturalisten von Boris Ejchenbaum bis Michail Bachtin quicklebendig war. Das späte Licht der Aufklärung und die Eleganz des freien Denkens, von der die russischen Dichterin Olga Sedakova in ihren Erinnerung an Tartu und ihren Lehrer Lotman schreibt, sind an der jungen Studentin Katja Petrowakaja nicht folgenlos vorüber gegangen.
Die Vorfahren von Katja Petrowskaja waren seit Generationen Lehrer für taubstumme Kinder. Sie ist die erste in einer langen Reihe, die damit bricht. Oder doch nicht? Deutsch heißt auf Russisch die Sprache der Stummen. Auch das ist wieder so eine verblüffende Korrespondenz im Leben Katja Petrowskajas, in der die Wahrheit die Dichtung übertrifft.
Einer der ergreifendsten Texte aus Tollers Gefängnisjahren ist der lyrische Zyklus „Das Schwalbenbuch“ von 1924, das den irrationalen Kampf der Gefängnisverwaltung in Niederschönenfeld gegen die Schwalben beschreibt, die in der Zelle eines Gefangenen nisten. Es ist lesbar wie am ersten Tag: „Die Schwalbeneltern trauern um ihre Jungen/ … Anders trauert Ihr, meine Schwalben, als die Menschen trauern./ Eure Klage: ein frierendes Erschauern vor dem Hauche der Unendlichkeit./ Mit Euch trauert der dämmernde Abend./ Mit Euch trauern die Dinge meiner Zelle.“
Auch Katja Petrowskaja, hat ein Buch über Dinge geschrieben, und sie hat es auf Deutsch geschrieben, damit wir sie verstehen. Fragt man sie, als was sie sich denn fühle, als Ukrainerin, Russin, Jüdin? Sagt sie: Die kürzeste Antwort, die sie darauf geben könne, sei ihr Buch. Und es hat viereinhalb Jahre gebraucht, um sie zu formulieren.
Dass Sie das auf sich genommen haben, liebe Katja Petrowskaja, dafür sind wir Ihnen dankbar. Ich gratuliere zum Ernst-Toller-Preis 2015. Herzlichen Glückwunsch.
Dr. Michael Pilz für die Zeitschrift der „Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften“ (ALG)
Ernst Toller: Sämtliche Werke
Erstmals liegt das literarische Gesamtwerk des Autors in einer kritischen Studienausgabe vor.
Ernst Toller, in den 1920er Jahren einer der auch international bekanntesten deutschen Dramatiker und nach 1933 führende Stimme des deutschsprachigen Exils, hat lange auf eine kritische Gesamtausgabe seiner Werke warten müssen. Nach ersten schüchternen Anläufen mit Auswahlausgaben 1959 in der DDR beim Verlag Volk und Welt sowie 1961 in der BRD bei Rowohlt, die jeweils nur einen wenig aussagekräftigen und textlich oft recht unzuverlässigen Ausschnitt aus Tollers Schaffen boten, unternahmen Wolfgang Frühwald und John M. Spalek 1978 erstmals den Versuch, eine repräsentative Toller-Ausgabe auf philologisch zuverlässiger Basis zu edieren: Ihre bei Hanser in fünf Taschenbüchern und einem Materialienband vorgelegten Gesammelten Werke bildeten für Jahrzehnte die maßgebliche zitierfähige Toller-Ausgabe, die die Beschäftigung mit diesem Autor in der Forschung und der allgemeinen Öffentlichkeit geprägt hat. Indes konnte es sich auch bei diesem verdienstvollen Unternehmen lediglich um eine Auswahl des Wichtigsten handeln, die zudem auf kritische Apparate und Stellenkommentare weitestgehend verzichten musste. Weder war das dramatische, noch das lyrische Werk vollständig enthalten und insbesondere aus dem weiten, für Toller jedoch zentralen Feld publizistischer Prosa sowie aus dem umfangreichen Korpus seiner Reden konnten lediglich schlaglichtartige Beispiele gegeben werden. Gemessen an Tollers Bedeutung nicht nur als Dichter im engeren Sinne, sondern auch als kritischer Zeitgenosse und beständig zwischen den Feldern der Politik, der Literatur und der Publizistik wechselnder Intellektueller, waren damit wesentliche Teile seines Schaffens lange Zeit unterbelichtet. Die zahlreichen zeithistorischen Bezüge, die seine Texte durchziehen, blieben ebenso unkommentiert wie die unterschiedlichen Fassungen und Varianten seiner großen Dramen unberücksichtigt. Seit Langem sind die Gesammelten Werke im Buchhandel vergriffen; eine noch von Frühwald und Spalek selbst geplante Briefausgabe ist nicht mehr realisiert worden.
Von Anfang an ist es eine der zentralen Anliegen der Ernst-Toller-Gesellschaft gewesen, diesen Mängeln abzuhelfen. Nun, runde zwanzig Jahre nach Gründung der Gesellschaft durch Dieter Distl in Neuburg an der Donau, ist das wesentliche Etappenziel erreicht: Unter dem Titel Ernst Toller: Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe liegt bei Wallstein in Göttingen erstmals das literarische und publizistische Gesamtwerk Ernst Tollers in Form einer insgesamt sechsbändigen Studienausgabe mit umfangreichen Apparaten und Kommentaren vor. Die Bände 1 und 2 umfassen die Theaterstücke einschließlich der jeweils vollständig abgedruckten Fassungen seiner bekannten Dramen Hoppla, wir leben! und Feuer aus den Kesseln; Band 3 die autobiographischen Bücher Eine Jugend in Deutschland, Briefe aus dem Gefängnis und Justiz. Erlebnisse einschließlich der verstreut publizierten autobiographischen und justizkritischen Prosa sowie erstmals auch aller überlieferten Verhörprotokolle, die nach den Verhaftungen des Revolutionärs 1918 und 1919 von Polizei-, Justiz- und Militärbehörden aufgenommen worden sind. In dem aus Umfangsgründen in die Teilbände 4.1 und 4.2 untergliederten vierten Band sind außer Tollers Prosasammlung Quer durch die übrigen publizistischen Arbeiten und Reden, die Fragmente zu einem unvollendet gebliebenen Bericht über seine humanitäre Hilfsaktion während des Spanischen Bürgerkriegs sowie die amtlichen Schriften aus der Münchner Revolution von 1918/19 enthalten; Band 5 schließlich bringt neben Tollers Lyrik und seinen Chorwerken auch die kurzen Erzählungen, die beiden Hörspiele Berlin, letzte Ausgabe! und Indizien sowie mit dem Text von Der Weg nach Indien das einzige überlieferte Film-Treatment aus Tollers Zeit als Drehbuchschreiber in Hollywood.
Nachdem mit Gründung der Ernst-Toller-Gesellschaft der institutionelle Grundstein für die Erarbeitung einer neuen Gesamtausgabe gelegt worden war, wurde die nötige wissenschaftliche Infrastruktur für die Realisierung des Projekts durch die Bewilligung eines Förderungsantrags geschaffen, den Prof. Stefan Neuhaus beim Österreichischen Fond zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF) eingereicht hatte: Im Herbst 2009 konnte die vom FWF für eine Projektlaufzeit von drei Jahren finanzierte Toller-Forschungsstelle am Institut für Germanistik der Universität Innsbruck ihre Arbeit aufnehmen, die Editionsarbeit koordinieren und das internationale Herausgeberteam unterstützen. Im Einzelnen waren an der Bearbeitung der Bände sowie an der Herausgabe der Gesamtedition beteiligt: Dieter Distl (Neuburg/Donau), Martin Gerstenbräun (Innsbruck), Torsten Hoffmann (Frankfurt/Main), James Jordan (Warwick), Bert Kasties (Aachen), Stephen Lamb (Warwick), Peter Langemeyer (Østfold), Karl Leydecker (Canterbury, jetzt Dundee), Lydia Mühlbach (Magdeburg), Stefan Neuhaus (Innsbruck, jetzt Koblenz), Michael Pilz (Innsbruck), Kirsten Reimers (Hamburg), Christiane Schönfeld (Limerick), Gerhard Scholz (Innsbruck), Rolf Selbmann (München), Victoria Strobl (Wien), Thorsten Unger (Magdeburg) und Irene Zanol (Innsbruck).
Noch während der Schlussphase des Editionsprojekts konnte ein von Stefan Neuhaus, Michael Pilz und Gerhard Scholz verfasster Projektantrag zur Förderung einer Briefedition beim FWF eingereicht werden, der für weitere drei Jahre ab Oktober 2012 erfolgreich bewilligt wurde. Nach dem Ruf von Prof. Neuhaus an die Universität Koblenz-Landau wird nun dort an der Anschlussedition zur Werkausgabe gearbeitet: Unter dem Titel Kommentierte Ausgabe der Briefe Ernst Tollers soll die dreibändige Edition im kommenden Jahr erscheinen. Mit ihr wird endgültig das Desiderat behoben werden, Tollers schriftlichen Nachlass so vollständig wie nur möglich in Buchform zugänglich zu machen.