Berlin, 12. September 2013 | Die neue Ausgabe des PHILOSOPHIE MAGAZINs steht unter dem Zeichen der Bundestagswahl: Freiheit, die wir fühlen oder meinen. Eine Spurensuche nach Heidegger und dem Konservatismus bei den GRÜNEN. Religionen und Gewalt in Ägypten und Syrien. Aber auch die schönste Nebensache der Welt wird verhandelt – Fußball. Und vieles mehr hier im Einzelnen:
Titel- Dossier
WIE WERDE ICH (EIN BISSCHEN) FREIER?
Wir sind so frei wie noch nie, fühlen uns aber ständig eingeengt. Sind es gerade die unüberschaubaren Möglichkeiten, die uns hemmen? Oder fehlt uns einfach der Mut, sie beim Schopfe zu packen?
Einführung von WOLFRAM EILENBERGER
Zitate:
„Niemals zuvor lebte eine so große Anzahl von Menschen in einem politisch geeinten System, das seinen Bürgern eine auch nur annähernd vergleichbare Selbstverwirklichungsfülle geboten hätte. Ein geschärftes Bewusstsein für die atemberaubende Unwahrscheinlichkeit dieser kulturellen Leistung besteht indes nicht. Vielmehr herrscht gerade in Freiheitsfragen die real existierende Gleichgültigkeit. Das vollendete Desinteresse der deutschen Bevölkerung an ihrer Bundestagswahl ist dafür deutlichstes Zeichen.“
„In dem historischen Moment, da wir im Herzen Europas die größte Freiheit aller Zeiten erreicht haben, in dem die liberalen Utopien eines Voltaire, Immanuel Kant, Adam Smith und John Stuart Mill von der Wirklichkeit sogar weit übertroffen wurden, sind uns die geistigen Grundlagen eben dieses Freiheitsprojekts unverständlich geworden.“
WANN FÜHLEN WIR UNS FREI?
Der Hirnforscher GERHARD ROTH erklärt, wie das Gefühl der Freiheit in unserem Kopf entsteht
FREIHEIT, DIE WIR MEINEN
Die Schriftstellerin THEA DORN und der Philosoph BYUNG-CHUL HAN streiten über die wahren Gründe unserer Freiheitskrise
Zitate:
„Wir sind heute keine Subjekte mehr, sondern Projekte, die sich in einem leeren Raum erfinden müssen“ (Byung-Chul Han)
„Einer der größten Gegner der Freiheit ist die Angst. Wir leben heute in einem extrem ängstlichen Zeitalter“ (Thea Dorn)
„Der Begriff der individuellen Freiheit hat uns in die Sackgasse geführt. Freiheit ist ein gelingendes Miteinander.“ (Han)
„Träger der Freiheit ist immer ein Individuum. Freiheit habe ich erreicht, wenn ich es ertrage, mit mir allein zu sein“ (Dorn)
RAUS AUS DEM Käfig
Fünf philosophische Tipps für ein freieres Leben von SVENJA FLAßPÖHLER
Fußball
WAS MACHT FUßBALL SCHÖN?
Die Bundesliga hat begonnen, die Weltmeisterschaft in Brasilien steht kurz bevor. Sportphilosoph GUNTER GEBAUER spricht mit Trainerlegende VOLKER FINKE über die Ästhetik des Kurzpasses, neue Spielideale und androgyne Helden. Philosoph Gebauer geht mit Jogi Löws taktischer Ausrichtung hart ins Gericht, er wirft dem Bundestrainer taktische Dogmatik und Beratungsresistenz vor.
Zitat:
GUNTER GEBAUER: „Das Kurzpassspiel scheint gegenwärtig zu einem Dogma zu verkommen – gerade in Deutschland, wo man sich diese Spielweise von der spanischen Nationalmannschaft und Barcelona abgeguckt und die Tendenz hat, eigene Stärken gering zu schätzen. In Interviews verbittet sich Jogi Löw jegliche Alternative zu dieser Fußballauffassung. Eine beharrende Taktik ist allerdings durchschaubar und setzt sich Gefahren aus, Dortmunds lange Pässe sind ein gutes Beispiel.“
Zu Politik und Gesellschaft
WIE VIEL HEIDEGGER STECKT IN DEN GRÜNEN?
Eine Spurensuche anlässlich der Bundestagswahl von HANS ULRICH GUMBRECHT
Die Grünen gelten als fortschrittlich, und doch haftet ihrer ökologischen Sorge ein erdnaher Konservatismus an, der, so unser Autor, im Werk Heideggers seine Reinform findet. Was hat es mit der Wahlverwandtschaft zwischen den Grünen und Heidegger auf sich? Und weist sie gar den Weg in ein schwarz- grünes Europa?
Zitate:
„Dass Heideggers Werk einzelne Protagonisten der Grünen und die Grünen als Bewegung inspiriert haben kann, ist erstaunlicherweise ebenso plausibel wie die Tatsache, dass Heidegger im Mai 1933 Mitglied der NSDAP wurde und der Partei bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs treu blieb, für sein näheres Umfeld unwahrscheinlich erschien.“
„Das Ende ist nahe, das Ende, erfahren wir immer wieder, ist nicht mehr abwendbar, aber in Würde unterzugehen, das soll noch möglich sein, dank bestimmter Nachhaltigkeits-Strategien (bei den Grünen), oder aber das Gelingen einer Selbstentbergung des Seins (bei Heidegger) als Rezept zum Aufschub der Apokalypse.“
„ES GIBT KEINE WAHRE RELIGION“ JAN ASSMANN
Ägypten steht kurz vor einem Bürgerkrieg. Grund genug, den berühmten Ägyptologen Jan Assmann („Das kulturelle Gedächtnis“) zum großen Werkgespräch einzuladen. Seine Thesen sind so aktuell wie streitbar:
Ägypten ist die eigentliche Wiege Europas. Monotheistische Religionen neigen zur Gewalt. Der Holocaust wird die Religion der Zukunft.
Gespräch mit einem Mann, dessen Gedächtnis mehr als 6000 Jahre in die Vergangenheit reicht
Zitate:
„Mein Eindruck ist, dass der Holocaust in einem transkulturellen Maßstab die religiösen Dimensionen einer Passionsgeschichte annimmt … Ganze Generationen von Schülern aus Israel reisen nach Auschwitz, um sich ganz und gar mit den Opfern zu identifizieren, so wie die Christen sich einst mit den Leiden Christi identifiziert haben… Es ist gut und richtig, dass dies geschieht. Auf der anderen Seite ist es gefährlich, weil es sich mit der Zeit mythisch aufladen und in einen Antigermanismus ausarten könnte.“
„Ganz wie später die Kirche nach Christi Himmelfahrt seine leibliche Präsenz auf Erden ersetzen wird, bis er zurückkommt, war der ägyptische Staat ein Ersatz für Abwesenheit oder Entfernung der Götter. Er hielt, mit dem Pharao an der Spitze, die Verbindung zu ihnen aufrecht.“
„Es gibt in allen drei großen Monotheismen eine Art sprachlichen Sprengstoff, der zwar entschärft, aber eben auch gezündet werden kann.
Er besteht in der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Freund und Feind.“
„Sich mit anderen Göttern einzulassen, ist eine Art Ehebruch.“
IST EINE MILITÄRISCHE INTERVENTION IN SYRIEN ZU RECHTFERTIGEN?
Der amerikanische Moralphilosoph Michael Walzer, Autor des einschlägigen Werks „Just and unjust wars“ (1977), hält ein Eingreifen der USA auch ohne UN-Mandat für gerechtfertigt. Ein Militärschlag sei, so Walzer im Gespräch mit dem Philosophie Magazin, „eine zwar illegale, aber moralisch notwendige Maßnahme, die dazu dient, das Völkerrecht zu verteidigen“.
WAS WILL DAS DRITTE GESCHLECHT?
Ab November kann in Deutschland bei intersexuellen Kindern die Zuordnung zum weiblichen oder männlichen Geschlecht entfallen. Längst wird auch dem „empfundenen und gelebten“ Geschlecht rechtliche Anerkennung gezollt. Aber, so fragt unser Kolumnist Robert Pfaller: „Muss man denn wirklich immer zeigen können, was man ist (bzw. wofür man sich hält)?“
Zitate:
„Anstatt für ein Recht auf Wahrhaftigkeit des Eigenen sollten wir uns lieber für ein Recht auf die Illusionen der anderen einsetzen. Die Rolle, die wir gesellschaftlich spielen können, sollte mehr sein als das, was uns biologisch anhaftet oder was wir an uns selbst empfinden.“
„Der Versuch, ‚adäquate‘ Rollen zu definieren und anzuerkennen, führt zur Reduktion der Individuen…“
GIBT ES EINE MORALISCHE PFLICHT, SEIN KIND IMPFEN ZU LASSEN?
1,5 Millionen Kinder weltweit sterben jährlich an Infektionen, die durch Impfungen hätten verhindert werden können. Auch in Deutschland gibt es immer wieder Todesfälle, allein in diesem Jahr sind bereits mehr als 1000 Menschen an Masern erkrankt. Verhält sich, wer seinem Kind den Piekser erspart, asozial?
Zitate:
Pro: „Wir wissen von Risiko und Leid hochansteckender Krankheiten. Wir wissen, dass Impfungen gegen dieses Leid schützen. Dieses Wissen macht die Krankheiten mit Gewissheit zu einem _vermeidbaren _Leid und also die Schutzimpfung zu einem Fall moralischer Pflichterfüllung angesichts des Prinzips der Nichtschädigung anderer.“ (Nele Schneidereit)
Contra: „In einer Welt, in der Kinder nicht als bloße Zahlen, sondern als menschliche Individuen mit unterschiedlichen Charakteristiken geboren werden, und in der diese Individualität anerkannt, respektiert und unterstützt werden sollte, kann es keine moralische Pflicht geben, sein Kind irgendeiner medizinischen Intervention zu unterziehen. Dazu gehören auch Impfungen. (Alice Lagaay)
EINE LIEBESERKLÄRUNG AN DIE VERNETZTE GENERATION – von MICHEL SERRES
Das neue Schuljahr hat gerade begonnen. Aber was wissen wir eigentlich über die jungen Menschen in den Klassenzimmern, die ihr Denken zunehmend an ihre Smartphones koppeln? Der französische Philosoph Michel Serres begrüßt die digitale Generation und analysiert, wie sie unser Bildungssystem grundlegend herausfordert
Prominenz
Die Schauspielerin CORINNA HARFOUCH antwortet auf Sokrates Fragen:
Welcher Denker ist für Sie am wichtigsten?
Harfouch: „Ich könnte viele und immer neue nennen, aber am Ende ist mir, und das hat nichts mit Unbescheidenheit zu tun, mein eigenes Denken am wichtigsten.“
Was war das Verrückteste, was sie je aus Liebe getan haben?
Harfouch: „Eine Frage, die ich ein bisschen peinlich finde, ungefähr so peinlich wie die Frage nach der Lieblingsfarbe, dem Lieblingslied, dem Lieblingsroman. Aber wenn man so will, hatten die beiden Scheidungen meines Lebens etwas damit zu tun.“
PDF | PHILOSOPHIE MAGAZIN 6/2013